„Der liebe Gott sieht alles!“
Ich gehöre noch zur Generation, die mit diesem Satz aufgewachsen ist. Dazu der erhobene Zeigefinger der Erwachsenen. Nicht dazu angetan, Vertrauen zu schaffen. Dabei hat dieser Satz einen bewegenden Ursprung.
Am Anfang der Bibel lesen wir von Hagar. Sie war die Dienerin Sarahs, der Frau von Abraham. Die beiden Frauen gerieten aneinander, und Hagar wurde mit ihrem Sohn in die Wüste geschickt. „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ (1. Mose 16,13). In großer Einsamkeit gibt Hagar Gott diesen Namen. Von allen verlassen weiß sie sich von ihm angesehen. Das ist das Gegenteil vom erhobenen Zeigefinger.
Gott sieht uns an. Er sieht unsere Geburt und unseren Tod und all die Jahre dazwischen. Als wir jung waren und dachten, dass nichts unmöglich sei. Er sieht uns auch in unseren mittleren Jahren, als unsere Kräfte unbegrenzt schienen. Gott sieht uns in unseren späteren Jahren, wenn große und kleine Zipperlein den Rhythmus unseres Körpers durcheinanderbringen, auf den wir bislang verlassen konnten. Er sieht, wen wir lieben, wo wir verletzt sind, wo wir zerbrochen wurden oder verloren haben. Gott sieht uns an – und wir werden. Dieser liebendende Blick der Güte Gottes geht unserem Leben voraus und ruht auf uns. Gott sah Hagar. Er sieht uns. Durch ihn sind wir Angesehene. Auch in diesem neuen Jahr.
Ein gesegnetes neues Jahr wünscht Ihnen
Ralf Meister
Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers