Lebensromantik
Mein Freund Peter ist über das Wochenende bei mir zu Besuch. Wir machen lange Spaziergänge, grillen und chillen und erzählen. Von der Lage beim Regenhochwasser, von der Corona-Entwicklung, vom Weltklima. Irgendwann haben wir genug von dunklen Themen. Peter sagt: „Mach doch mal den Fernseher an. Jetzt kommt auf dem dritten Programm vom Bayrischen Rundfunk die Sendung ‚Eisenbahn-Romantik‘. Dort wird jeden Tag über historische Lokomotiven und auch Modelbahnen berichtet. Ich bin interessiert, Peter ist begeistert. Er sagt, dass er seine Märklin H0-Anlage, die seit 55 Jahren in Kisten verpackt auf dem Boden liegt, wieder ausgepackt und aufgebaut hat. Jeden Tag, den er nun als Rentner verlebt, verbringt er mehrere Stunden mit Planen, Bauen, Sägen, Modellieren und – logisch – Loks- und Waggonsfahren. Mir kommt bei seinem Bericht der Einfall, dass auch ich noch meine Märklin im Keller liegen habe. Seit 45 Jahren unberührt. Wie ein Blitz bekomme ich die Idee: Die kann ich doch auch nochmal wieder anrühren! Gedacht, gesagt und gemacht. Nachdem ich unser Wohnzimmer mit zwei Gleisovalen besetzt habe, macht meine Frau den Vorschlag: „Bau das doch im Keller auf, aber gleich richtig: mit Platte und allem Pipapo.“ Gute Idee, denke ich, und ziehe in das Untergeschoß. Nach einer überfälligen Entrümplungsaktion ist tatsächlich Platz für eine Anlage im Format 2 x 1,5 Meter. Ab zum Baumarkt. Nun steht sie da, meine alte Kindereisenbahn und zuckelt vor sich hin. Jeden Tag gönne ich mir eine Stunde am Abend zum Basteln. Weichen entstauben, Lichter anschließen, Züge fahren lassen. Herrlich.
Nicht nur jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Auch jede Erinnerung hat einen Zauber. In diesen Tagen denke ich nicht nur an meine Kinderzeit, sondern ebenso an die Zeit bei Ihnen in der Kirchengemeinde Oldendorf. Mein Wirken als Ihr „Springer-Pastor“ vor Ort endet hier mit dem Anfang der Arbeit der neuen Pastorin. Andere Aufgaben im Kirchenkreis Stade warten bereits auf mich. Die zwei Jahre bei Ihnen waren nicht nur von Corona geprägt, sondern von vielen Begegnungen mit Ihnen: ob bei Taufen, Trauungen, Trauerfeiern und Sonntagsgottesdiensten. Ob auf Plattdeutsch oder als Martin Luther oder als Pastor im Oberharzer Bergkittel: Vieles war bei und mit Ihnen möglich und hat – hoffentlich – viel Freude und auch Nachdenken mit sich gebracht. Ich danke Frau Pastorin Franz, dem Kirchenvorstand und den vielen Ehrenamtlichen, die mich freundlich in so manche Eigenart des Lebens in „Oldendorf und um zu“ eingeführt haben. Meine Zeit bei Ihnen ist eine Herzenserinnerung für mich. Und sollte es einmal eine Fernsehsendung geben, die statt „Eisenbahn-Romantik“ „Lebens-Romantik“ lautet, dann kommt die Zeit bei und mit Ihnen darin sicherlich vor. Gottes Segen möge Ihre Gemeinde in allen Orten begleiten.
Ihr Pastor Matthias Schlicht