Vor Jahren saß ich mit einem Kreis von Stadtvertretern zusammen, eine Schulleiterin eines Gymnasiums, ein Berufsschulleiter, der Polizeipräsident, ein Gemeindemitglied einer muslimischen Gemeinde, der Kantor der jüdischen Gemeinde. Wir sprachen lange darüber, was eine Stadt, was ein Dorf zusammenhält. Wir suchten Merkmale, die die Stimmung besonders beschrieben. Schließlich schlug die Schulleiterin vor: „Das Hauptproblem ist, dass sich immer weniger Menschen umeinander kümmern.“ „Sich-kümmern-um“ – wurde unser Wort dafür.
Wer kümmert sich noch, so barmherzig, offensichtlich darum, dass eine Gesellschaft in einer Stadt, in einem Dorf nicht auseinanderfällt? Zuerst meinten wir, es gäbe sie gar nicht mehr, diese Kümmerer. Wir redeten von Autoritätsverfall und Gewalt von Verwahrlosung und Gleichgültigkeit. Aber dann merkten wir schnell, es sind viel mehr, als wir dachten, die „sich-kümmern.“ Eigentlich ist die Stadt, eigentlich ist das Land voller Kümmerer. Das haben wir im vergangenen Jahr gemerkt. Bei allen Einschränkungen, allen Diskussionen und Differenzen: sie waren immer da, die Kümmerer.
Lasst uns das auch für das neue Jahr als Vorsatz nehmen: Barmherzig sein! Lasst uns die Barmherzigkeit noch gewissenhafter pflegen. Im Laufe des letzten Jahres hat es viele Auseinandersetzungen gegeben. Manchem sind die Nerven zwischendurch verloren gegangen. Auch uns selbst. Lasst uns barmherzig sein, mit uns und mit anderen. So, wie unser Vater im Himmel es ist.
Lasst uns barmherzig sein! Auch mal drei Schritte zurückgehen und die Lage in Ruhe betrachten. Immer dann, wenn wir im Begriff sind, vorschnell zu entscheiden oder gar zu verurteilen. Wenn Menschen meinen, nur sie allein würden genau wissen, was richtig ist für unser Land. Oder ganz eindeutig zu wissen meinen, wie sich eine Region, eine Stadt, eine Kirchengemeinde,
oder auch unsere ganze Kirche entwickeln sollten. Jedes Mal, wenn wir im Begriff sind, unsere Sicht der Dinge absolut zu setzen, immer dann sollen wir uns an die Jesu Worte erinnern: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Die Haltung Gottes zu uns: Er sieht, wie wir in seinen Augen sein könnten. Er sieht unsere Möglichkeiten und Fähigkeiten. Und er sieht barmherzig auf das, was wir trotzdem versäumen. Er billigt nicht unsere Lieblosigkeit. Aber er lässt sie nicht alles sein, was es über uns zu sagen gibt. Er ist barmherzig. Auch mit denen, die ganz anders sind als ich selbst. Erst dadurch wird der Blick auf die Welt vollständig.
Ein gesegnetes Jahr 2021 wünscht Ihnen
Ralf Meister, Landesbischof
(Foto: Heiko Preller)