Im vergangenen Jahr war ich mit meinen Kindern (17 und 18 Jahre alt) in der zentralen Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Nach zwei Stunden schweigendem Gang durch die Ausstellung fragte meine Tochter: „Und Oma hat da schon gelebt?“ Wir spürten alle sofort, dass die Erinnerung an dieses Grauen des 2. Weltkriegs keine historische Erinnerung ist, sondern einen unmittelbaren Ort in allen deutschen Familien hat und haben muss. Seit 74 Jahren ist Frieden in unserem Land. Für unsere Kinder ist das eine Welt, die sie – Gott sei Dank – nicht kennen.
Aber ihre Großeltern, unsere Eltern haben den Krieg hautnah erlebt. Sie wissen noch zu gut, dass menschlicher Friede immer temporär und brüchig ist. Wir sind in der Zwischenzeit gefährlich abgestumpft bei den vielen Nachrichten, in denen ständig von neuen Krisenherden berichtet wird oder von alten Konfliktfeldern, die auch nach Jahren nicht beigelegt sind. Und wissen doch, dass es auch auf einer kleineren Skala Bereiche voller Spannungen gibt: In der Familie, am Arbeitsplatz, in der Gemeinde. Wo Menschen zusammenkommen, entstehen Konfliktfelder.
Das Jahr 2019 steht unter dem Bibelwort „Suche Frieden und jage ihm nach!“ (Psalm 34,15). Ich habe mich über die Wahl dieses Psalmverses gefreut. Es ist eine Aufforderung an alle Christinnen und Christen und auch ein Mahnwort an ganz Europa. Suchet den Frieden! Wer vor fast 3000 Jahren diese Worte geschrieben hat, der wusste:
Frieden ist nicht etwas, was sich einfach einstellt, wenn der Krieg vorbei ist.
Frieden braucht Energie, Mut, Überzeugung.
Frieden braucht Leidenschaft.
Frieden ist keine leere theologische Vision.
Er ist kein Traumbild, sondern eine konkrete Handlungsoption.
Es gibt viele Verben für das Kämpfen, aber kein Verb für den Frieden.
Frieden machen, Frieden gestalten kann heißen: Einander besser kennen lernen, im kleinen Freundeskreis und in der Begegnung der Nationen. Versuchen zu verstehen, auch wenn die Unterschiede bestehen bleiben. Frieden heißt, aushalten, dass wir verschieden sind und uns dennoch in Liebe begegnen. Frieden heißt Vergeben, ohne eine Gegenleistung. Gastfreundschaft üben und voneinander lernen. Wir brauchen noch viel mehr Verben für den Frieden!
Friede, Schalom meint nach biblischem Verständnis weit mehr als nur die Abwesenheit von Streit und Krieg. Schalom meint eine tiefe Sehnsucht nach einer heilen, unversehrten Welt, in der keine Gefahr mehr droht. Schalom ist die unverbrüchliche Hoffnung auf ein gerechtes und alle Feindschaft überwindendes Miteinander der ganzen Schöpfung: „Doch ist ja Gottes Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, dass in unserm Land Ehre wohne; dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen; dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue“. (Psalm 85,10-12)
Dass Sie mit diesem Vertrauen das neue Jahr gestalten können, wünscht Ihnen
Ihr
Ralf Meister
Landesbischof Hannover